Was passiert? Luftpiraten befreien bei einem Überfall eine junge Frau aus den Händen der valuanischen Armada. Und ein paar Dinge mehr.
VOD vom Stream (Beginn ca. 00:13:05)
„The age of exploration has dawned upon the world of Arcadia. Brave adventurers set sail across the vast skies in search of treasures untold. And, where there is treasure, there will be Air Pirates…“
Diese Worte erscheinen beim Start des Spiels, noch vor dem Titelbildschirm. Sie versprechen eine aufregende Reise voller Abenteuer in unbekannte Länder und große Reichtümer für alle, die sich aufmachen, die Welt zu erkunden – ein goldenes Zeitalter für Piraten.
Es ist fast etwas seltsam, wie das Spiel dann tatsächlich losgeht. Eine allein reisende junge Frau wird von der valuanischen Armada gefangen genommen und zufällig von Piraten bei einem Überfall befreit. Eine Abenteurerin? Aber sie führt keine Schätze mit sich – und warum greifen die Piraten ein offensichtlich militärisches Schiff an? Schon von Anfang an spielt Skies of Arcadia mit den Erwartungen des Spielers, unterläuft sie mal gekonnt und liefert nur Sekunden später ebenso gekonnt genau das, was der Spieler erwartet hat, und mehr.
Willkommen an Bord bei Skies of Arcadia. Willkommen in der vielleicht besten Einleitungssequenz, die ich je gesehen habe. Kein Witz – die erste Sequenz des Spiels vom Start bis zum ersten Kampf von Vyse und Aika gegen ein paar valuanische Soldaten ist pure, perfekte erzählerische Eleganz. Sehen wir uns das genauer an!
Die allererste Cutscene des Spiels
Die allererste Einstellung des Spiels ist ein großer, silberner Mond, so ziemlich das einzige, das die Welt von Skies of Arcadia und unsere Welt gemeinsam haben. Ein letzter Blick auf Normalität, bevor das Spiel uns direkt ins kalte Wasser schmeißt. Der klassische Begriff dafür ist „in medias res“, etwa übersetzt „mitten in den Dingen“ oder „mitten in die Dinge“ und steht für eine Erzählweise, die sich nicht mit irgendwelchen langen Einleitungen und Einführungen aufhält. „Hier ist eine Reisende auf ihrem Schiff, hier ist ein anderes Schiff, das sie verfolgt – Los geht’s!“
In so einem Fall muss man die Welt entweder später aufbauen oder nebenbei, und Skies of Arcadia beherrscht beides in Perfektion. Beispielsweise vermittelt uns diese Introsequenz, dass in dieser Welt Schiffe nicht übers Meer, sondern durch die Lüfte fahren – und zwar so einfach, simpel und doch so überzeugt, dass alle Zuschauer im Stream diese schlichte Tatsache der fliegenden Schiffe sofort als Bestandteile der Geschichte akzeptiert haben. Es gibt sie in unterschiedlichen Ausprägungen – ein klassisches Segelschiff aus Holz aus der Hochzeit der Seefahrerei und Piraterie, ein Schlachtschiff aus dem zweiten Weltkrieg, und …wasauchimmer das dritte Schiff ist. Vielleicht kommen sie aus verschiedenen Ursprüngen und Kulturkreisen? Die Luftpiraten und die Armada scheinen jedenfalls verfeindet zu sein.
Was erfahren wir über die Charaktere und die Handlung? Fina, die junge, allein reisende Frau, hat erst einmal kein Wort zu sagen. Sie steuert ein Schiff, für das es keine Vorbilder gibt, trägt ein langes Kleid und einen Schleier – merkwürdig feine Kleidung für eine solche Reise – und ist das Objekt der Begierde für Admiral Alfonso und die valuanische Armada, die sie „befragen“ wollen und sie dafür jagen. Zwanzig Sekunden im Spiel treffen wir bereits das erzählerische Topos der letzten dreitausend Jahre schlechthin – die Jungfrau in Nöten, oder wie es auf Englisch heißt: „damsel in distress“. Eine vorwiegend weibliche Figur, hübsch und hilflos, die gerne mal von einem Drachen gefangen gehalten oder von Räubern verfolgt wird und sich auf jeden Fall in Gefahr befindet.
Natürlich ist Fina einer der wichtigsten Charaktere des Spiels und deutlich mehr als dieser erste Eindruck, aber Skies of Arcadia spielt an dieser Stelle ganz bewusst mit diesem allseits bekannten Bild. Es weckt zum einen Erwartungen an Fina – dass sie im Lauf der Geschichte noch eine wichtige Rolle spielen wird, aber auch Vermutungen in Richtung Hilflosigkeit, Naivität etc., die das Spiel dann später erfüllen oder unterlaufen kann – und zum anderen, und das ist an dieser Stelle viel wichtiger: wer auch immer sie verfolgt, ist in der Wahrnehmung des Spielers erst mal der Böse, und zwar ohne dass das Spiel darüber auch nur ein Wort verlieren muss.
Admiral Alfonso macht allein dadurch schon einen großartigen ersten Eindruck als Bösewicht des Anfangs, und er bemüht sich nach Kräften, dem Eindruck gerecht zu werden. Sein prunkvoller Anzug in einer militärischen Umgebung – und seine regelmäßige Haarpflegebewegung – zeugen von einer enormen Eitelkeit. Er schießt rücksichtslos mit den großen Kanonen seines militärischen Schlachtschiffs auf Finas kleines Ein-Mann-Boot. Besonders erwähnenswert ist auch die Musikuntermalung (treffend benannt „Armada“) – der militärisch-marschierende Trommelrhythmus und die langsamen, getragenen, ausladenden Melodiebögen geben ein herausragendes Thema für die Armada ab, das wir noch oft mit großem Effekt hören werden. Hier, am Anfang, verleiht es Alfonsos Handlungen an Bord des Schlachtschiffs noch eine zusätzliche, bedrohliche Aura.
…die beim ersten Kontakt mit den Luftpiraten zerplatzt wie ein Luftballon.
Es ist auffällig, wie sofort – SOFORT – die Musik abbricht, und wie Admiral Alfonso sofort in Unsicherheit und Unglauben erstarrt. Bei der ersten Herausforderung fällt er in sich zusammen wie ein Kartenhaus und entpuppt sich als unfähige Luftnummer – und wenig später auch noch als ehrloser Feigling, als er seinen Vizekapitän über Bord wirft, um einen Sündenbock für die Niederlage gegen die Luftpiraten zu haben, bevor er sich als Einziger im Rettungsboot davonmacht und sein Schiff, seine Crew und seine Soldaten ihrem Schicksal überlässt.
Die Luftpiraten sind nun im oben angesprochenen klassischen Topos diejenigen, die eingreifen und die bösen Räuber in die Flucht schlagen. Sie treten den Bösen entgegen, beschützen und verteidigen die Schwachen und Unschuldigen und sehen damit per Definition erst mal gut aus – und das ist auch genau der Punkt. Das Spiel sagt uns mit absoluter Klarheit: Das hier sind die Guten.
Vyse ist der Erste an Bord des feindlichen Schiffs und stellt sich kühn und mutig den Feinden entgegen. Kaum betritt er die Bühne, gehen die Scheinwerfer an und richten sich auf ihn (buchstäblich!). Lauter kann man in der Bildsprache nicht „HAUPTFIGUR“ schreien. Dann kommt Aika dazu – Sidekick, Hauptfigur Nummer zwei, die sich mit Vyse das Rampenlicht teilt, jetzt und für den Rest des Spiels.
Schnitt zum ersten Kampf von Vyse und Aika gegen ein paar gesichtslose valuanische Soldaten.
Warum ist diese Sequenz so bemerkenswert? Weil sie kaum drei Minuten dauert, nicht eine Sekunde auf irgendwelches Vorgeplänkel oder einführende Texte verschwendet und uns trotzdem ein glasklares Bild der Verhältnisse vermittelt. Action. „Show, don’t tell“. Weil sie uns ein ausreichendes Bild der Welt vermittelt, ohne uns zu langweilen. Weil wir sofort wissen, worum es in diesem Moment gerade geht und warum das wichtig ist. Weil sie ein perfektes Szenensetup liefert, in dem Bösen absolut verachtenswert und die Guten heldenhaft und bewundernswert sind. Und weil wir ohne weitere Umstände in die Rolle der Guten gesteckt werden und uns jetzt gerade in diesem Moment nichts mehr Freude bereitet, als den Bösen kräftig eine aufs Maul zu geben. Was genau das ist, was das Spiel an dieser Stelle von uns will. Perfekte Immersion in drei Minuten.
Schaut euch zum Vergleich mal die ersten drei Minuten von jedem beliebigen anderen RPG an. Als besonderen Kulturschock empfehle ich aus der gleichen Zeit Tales of Symphonia, das gerade am Anfang vorne und hinten nicht aus dem Quark kommt. Oder aktuell Persona 5 – großartiges Spiel, braucht aber zwei Stunden für das, was Skies of Arcadia in drei Minuten schafft.
Das sind drei Minuten ganz, ganz große Erzählkunst, die nahtlos übergehen in eine ganz typische Gameplaysequenz des Spiels. Auch hier kommt Skies of Arcadia ohne Umschweife zum Punkt und setzt den Spieler ohne Umschweife im ersten Dungeon des Spiels ab. Vyse, der Luftpirat, darf unmittelbar zu Spielbeginn piratige Dinge tun und ein paar Bösewichten ein paar Lektionen erteilen. Wie oft ist das erste, was man in einem RPG tun darf, die Erkundung eines Dorfes, verbunden mit ein paar echt großen Textwänden zum Lesen? Skies of Arcadia gestattet es dem Spieler hingegen, sofort und unmittelbar mit einem Dungeon und ein paar Kämpfen – mit Action – zu beginnen. Das Spiel nimmt die aufgebaute Spannung aus der Introsequenz mit und startet dadurch mit einem enormen Schwung und mit keiner Sekunde Langeweile oder Desinteresse zum Start. Das Resultat einiger bemerkenswerter, bewusster Designentscheidungen, die sich schon jetzt, fünf Minuten nach Spielstart, voll auszahlen – der Spieler nimmt den Controller und ist bereit und willig, sich unmittelbar der Herausforderung zu stellen.
Willkommen im ersten Dungeon.
Tutorial: Der erste Dungeon des Spiels
Die Überleitung zum Dungeon besteht im Wesentlichen daraus, dass Captain Dyne Vyse den Befehl erteilt, den Motor des Schiffs abzuschalten. Das etabliert Vyses Position als einfaches Crewmitglied und seinen Vater als Autoritätsperson und Vorbild – durchaus typisch für den Haupthelden der Geschichte, der im Lauf der Geschichte schließlich erst noch wachsen und am Ende alle Vorbilder überflügeln muss. (Außerdem haben wir damit ein paar wichtige Punkte in Vyses Biografie, wie Familie und die Frage „warum Pirat?“ nach fünf Minuten und nur mit ein paar Informationen aus dem Subtext schon abgehakt.) Wir sehen Vyse auch schon als locker und gut gelaunt – wichtige Qualitäten in einer grundlegend sympathischen Hauptfigur.
Interessanterweise verwendet das Spiel hier im ersten Dungeon aber kaum Zeit darauf, Vyse einzuführen, zu erklären, zu beschreiben oder ihn generell mit schriftlich ausgeführten Informationen zu versehen. Der Hauptteil der Redeanteile im Dungeon gehört – Admiral Alfonso.
Das liegt natürlich auch daran, dass Alfonso sich offensichtlich sehr gern selbst reden hört, während Vyse eher dazu neigt, schneller zum Punkt zu kommen, aber es ist mal wieder auch eine bewusste Designentscheidung – Vyse wird für uns als Spieler dadurch definiert, wie er auf Alfonso reagiert. Das ist im Grunde derselbe Trick wie im Intro, wo die Piraten als die Guten eingeführt werden, weil sie den Offensichtlich Bösen entgegentreten, aber hier mit einem Twist – Vyses Reaktionen sind genau die, die der Spieler Alfonso selbst entgegenbringt.
Woher weiß Skies of Arcadia das? Nun, wie sollte der Spieler sonst reagieren als mit Unglauben gegenüber Alfonsos Arroganz und mit Empörung angesichts des kaltblütigen Mordes, den er verübt? Alfonso selbst wird in der ganzen Sequenz mit dem Holzhammer charakterisiert und entspricht auf fast unheimliche Weise dem Klischee eines Wegwerf-Bösewichts – aber das ist Absicht, und auch in Ordnung so. Skies of Arcadia macht sich das im Endeffekt subtil zunutze, um die Immersion aus seiner Anfangssequenz zu verstärken und den Spieler ein für alle Mal in seiner Rolle als Vyse aufgehen zu lassen – höchstens eine halbe Stunde nach Spielstart. Das Resultat von „show, don’t tell“ in Perfektion.
Fina
In dem Moment, wo Fina zu sich kommt und Vyse und Aika zum ersten Mal sieht, hat das Spiel uns noch keine wirklichen Erklärungen gegeben. Es gibt „die Armada“ (die Bösen) und „die Piraten“ (die Guten), viel mehr wissen wir nicht über die Welt – und trotzdem haben wir von Vyse und Aika schon ein ganz gutes Bild. Bemerkenswert, nicht?
Skies of Arcadia folgt dem alten Grundsatz „Sorg erst mal dafür, dass deine Leser/Zuschauer/Spieler interessiert und im Bestfall schon emotional verbunden sind. Dann ist es Zeit fürs Worldbuilding.“ Nun, die Zeit dafür ist jetzt gekommen, und Fina ist in der perfekten Position, genau die Fragen zu stellen, die der Spieler bislang noch nicht stellen konnte. Damit wird einerseits dem Spieler die Welt erklärt, in der er sich befindet, und andererseits den Charakteren ein bisschen mehr Hintergrund gegeben. Wir erfahren zum Beispiel, wie es sein kann, dass Piraten in einer Geschichte die Guten sind („Wir überfallen nur die Bösen und die Bewaffneten und nutzen das Gold, um anderen zu helfen!“ funktioniert seit Robin Hood prächtig).Der erzählerische Fokus während der Reise nach Hause liegt ganz klar auf Fina. Schon beim Schnitt weg vom Bosskampf an Bord von Alfonsos Schiff verbleibt die Kamera auf ihrem Gesicht, gefolgt von ein paar verwaschenen Bildern in einer unbekannten Umgebung – klassische Erinnerungssequenz. Es ist unklar, was wir sehen, aber dass es Finas Erinnerungen sind, ist klar. Die Warnung „Do not allow trust“ ist so ziemlich das einzige, das zu diesem Zeitpunkt klar verständlich ist. Fina scheint aus einer komplett anderen Welt zu stammen und bekommt die Welt nach und nach erklärt wie jemand, der in ihr komplett neu ist und sich gar nicht auskennt. Wie eben der Spieler. Fina kann die Fragen stellen, die der Spieler auch hat, wenigstens einige, und bekommt sie beantwortet. Sie sieht die Dinge mit neugierigen Augen zum ersten Mal, wie auch der Spieler.
Die Ankunft auf der Heimatbasis der Piraten wird praktisch aus Finas Perspektive erzählt – eine kleine Insel in der Ferne, die immer größer wird, deren Bewohner das Schiff freudig erwarten. Ein Zuhause für die Leute, die sie gerettet haben. Häuser in einem Baustil, den sie nicht kennt. Ein Versteck für das Schiff, auf dem sie entkommen ist und wo sie erst einmal sicher sein sollte. (Und so ganz nebenbei zeigt uns das Spiel auch, wo die Piraten eigentlich ihre geheime Basis haben und wie genau das mit dem Versteck funktioniert. Die Szene funktioniert als Charakterdarstellung und Worldbuilding gleichermaßen, hält dadurch beides interessant und erspart es sich, eins davon später etwas umständlicher im Detail ausführen zu müssen. Sehr elegante Erzählweise, wenn ihr mich fragt.)Für diese kurzen Szenen ist Fina das Fenster des Spielers in die Welt. Eine andere Form der Verbundenheit als mit Vyse und Aika, aber der Effekt ist derselbe – Fina ist in der Wahrnehmung des Spielers als wichtige Figur etabliert, mehr als nur die „damsel in distress“, kaum zehn Minuten nach ihrem ersten gesprochenen Satz.
Was natürlich auch hilft: erst mal dem Anführer und Ober-Badass der Piraten kräftig Kontra geben.
Fina vs. Captain Dyne
Was wissen wir über Captain Dyne? Er ist Vyses Vater. Seine Crew, sein Sohn eingeschlossen, folgen seiner Autorität unwidersprochen – sein Verbot, sich ohne seine Erlaubnis an den Munitionskisten zu vergreifen, wird beachtet. Er achtet auf Disziplin und Pünktlichkeit – Vyse wird fürs Zuspätkommen das Deck schrubben dürfen – achtet aber auch auf eine faire Verteilung der Beute (er drückt Vyse persönlich seinen Anteil in die Hand). Im Kampf steht er an vorderster Front, und er achtet auf die Sicherheit seiner Crew. Er betrachtet es sogar als seine ausdrückliche Verantwortung, für ihre Sicherheit zu sorgen. Ein Anführer durch und durch. Admiral (!) Alfonso kann sich mehr als eine Scheibe von ihm abschneiden.
Diese Eindrücke von Captain Dyne beeinflussen sowohl die Wahrnehmung des Spielers von Alfonso (ein noch schlimmerer Versager, als anzunehmen war) als auch die von Vyse, der sich anschickt, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Er stellt sich dabei ja gar nicht schlecht an, aber er hat eindeutig noch viel zu lernen.
Und dann kommt Fina und stellt sich ihm furchtlos entgegen. Während Dyne seine schönste „Bad Cop“-Routine zum Besten gibt.
Die Drohung, er könne sie nicht am Leben lassen, wenn sie eine Gefahr darstelle, passt so überhaupt gar nicht zu Dyne, dass ziemlich klar ist, dass er spielen muss, und er gibt es im Nachhinein ja auch praktisch zu („Heh. Looks like I lost this one“). Warum spielt Dyne also den Bösen Bullen? Nun, zuerst tut er das ja nicht, sondern er stellt Fina ein paar förmliche Fragen. Als er keine Antwort erhält, versucht er sie einzuschüchtern – zuerst fährt er Vyse oder Aika (wer auch immer ihn unterbricht) barsch an und formuliert dann seine Drohung nicht einmal Fina direkt gegenüber, sondern er stellt sie indirekt in den Raum. Der Verdacht, dass das funktionieren könnte, liegt bei einer allein reisenden Frau in feiner Kleidung ja schon nahe.
Allein – es funktioniert nicht. Fina hält Stand. Sobald sie sich entschieden hat, tritt sie ihm mit offenem Blick und fester Stimme entgegen und sagt, dass sie seine Frage nicht beantworten kann, weil sie geschworen hat, zu schweigen, selbst wenn es ihr Leben koste.
Hält noch jemand Fina für „schwach“, „ängstlich“ oder gar „hilflos“? Die typischen Erwartungen an die „damsel in distress“ werden spätestens in dieser Szene pulverisiert. Fina mag überrascht und von einer schwer bewaffneten Übermacht gefangen genommen worden sein, aber sie hat eine Mission und einen eisernen Willen. Auch wenn es noch ein paar Stunden dauern wird – ganz klar: ein zukünftiges Partymitglied. So ein Charakter kann kein NPC bleiben.
Vyse
Knapp 2.800 Wörter – oder ne gute Stunde Spielzeit – und was wissen wir jetzt über unsere offensichtliche Hauptfigur Vyse? Wir haben gesehen, dass er den Bösen entgegentritt und sich für Schwächere und gegen Unrecht einsetzt, außerdem seine grundfreundliche, lockere, entspannte Art aufzutreten – alles Dinge, die uns Skies of Arcadia ausführlich gezeigt hat. Wir lernen seine Eltern und seine beste Freundin Aika kennen, und wir wissen, warum er Pirat ist und von wem er gelernt hat.
Das ist ziemlich viel angesichts der Tatsache, dass uns das Spiel noch nichts über Vyse ausdrücklich gesagt hat. Wir haben bislang noch keine Beschreibungen anderer Charaktere über Vyse bekommen, keine Aussagen über ihn, nichts von ihm selbst über sich. Skies of Arcadia hat es nicht nötig, Random-NPC #4711 oder Partymitglied #2 über Vyse irgendwelche Feststellungen treffen zu lassen, oder über irgendwelche Charaktere überhaupt. Es gibt kein „du bist so klug“, „du bist so dumm“, „du bist so mutig“ als Versuch, uns etwas über den Charakter zu erzählen – Skies of Arcadia zeigt uns das alles. Auf diese Weise können wir uns ein Bild von den Charakteren machen. Das reicht.
Und trotzdem kriegt Vyse noch eine Extrabehandlung: er darf uns seinen Herzenswunsch enthüllen. Diese tiefgründigste Motivation, das, was ihn antreibt – Vyse formuliert sie für uns einfach aus, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.
„I often wonder what lies beyond the sky. Beyond the sunset. Some say that there are monsters. Others say that there’s a maelstrom that either blows ships away or pulls them in, and they’re never seen again. And there are others that just say it’s impossible. I want to know what’s out there. Besides, I don’t like giving up on anything without giving it my best shot. Someday, I will be the captain of my own ship. I’ll go beyond that sunset, and I’ll see what’s out there. ” – Vyse
Boom. Eine Stunde im Spiel, und wir lesen so etwas. Was sagt uns diese Selbstoffenbarung von Vyse? Nun, sie funktioniert auf mehreren Ebenen. Vyse enthüllt uns das, als wäre es das selbstverständlichste der Welt, und er enthüllt es Fina, obwohl er sie gerade ein paar Stunden lang kennt. Vyse hat keine Angst davor, für diesen Traum ausgelacht zu werden. Also so überhaupt gar keine. Er geht hin und sagt’s den Leuten einfach. Er ist grundehrlich, sowohl zu anderen als auch zu sich selbst. Und er ist sich sicher, dass er das schaffen kann. Er glaubt an sich, ohne auch nur ansatzweise an sich zu zweifeln. Er mag noch viel zu lernen haben, aber er hat ja Zeit. Und er hat keine Angst. Nicht nur auf der persönlichen Ebene, wo die Leute ihn auslachen könnten, sondern auch im Angesicht der Gefahren, die es in der Welt geben mag und mit Sicherheit auch gibt. Aufgeben ist nicht. Gefahren sind Herausforderungen, die überwunden werden müssen auf dem Weg zur Verwirklichung seines Traums, mehr nicht.
Vyse ist ein Träumer, ein Optimist – aber auch jemand, der willens und in der Lage ist, diese Träume Realität werden zu lassen. Von Anfang an hat er ein klares Ziel vor Augen, mit dem er in die Geschichte hinein geht, eine grundlegende Motivation, und sein ganz eigenes Ziel, das ihn antreibt.
Das ist in dieser bemerkenswerten Klarheit äußerst selten. Oft verwendet eine Geschichte ihre Einleitung darauf, den Helden erst auf diesen Pfad zu setzen und ihm erst dieses Ziel zu geben, oder arbeitet mit abgenutzten Tricks, wie zum Beispiel einfach hinter dem Helden sämtliche Brücken abzubrechen (Verbannung, Mord an der Familie etc.). Vyse weiß das alles schon in jungen Jahren.
Und andererseits: wir erleben die Geschichte zu diesem Zeitpunkt ja immer noch mehr oder weniger aus Finas Perspektive, die in eine Welt geschmissen wird, die lebt und in der die Personen, die sie trifft, auch eine Vorgeschichte haben. Vyse träumt schon sein ganzes Leben davon, warum sollte er nicht? Er hatte auch ein Leben, bevor Fina hinein gestolpert ist.
In einem gewissen Sinn verleiht diese Selbstauskunft von Vyse ihm und der ganzen Welt zusätzliche Tiefe, eine Vorgeschichte, eine Vergangenheit. Ein schon vor Jahren gefällter Entschluss, der jetzt den Verlauf der Geschichte unmittelbar beeinflusst. Eingeführt zum frühestmöglichen Zeitpunkt, eine Gewissheit in der Geschichte. Und Setup für die gesamte Hauptstoryline von Skies of Arcadia in Vyses Begleitung.
Denn auch das ist an Skies of Arcadia bemerkenswert – es ist absolut un-zynisch. In der Welt von Skies of Arcadia können die guten Luftpiraten dem bösen valuanischen Reich und seiner großen Flotte entgegen treten. In dieser Welt warten Abenteuer klein und groß, unentdeckte Länder zu erkunden und viele Geheimnisse zu entdecken.
In dieser Welt kann ein so ausformulierter Traum, ein Herzenswunsch, wahr werden.
Willkommen an Bord.
Kleinere Beobachtungen:
– Nächster Schritt: ein kleines Abenteuer für Vyse und Aika. Die Erkundung einer verlassenen Insel / Ruine, um einen Schatz zu finden. Was auch sonst. 😀
– In der Szene, wo Aika Vyse beim Überfall auf das feindliche Schiff folgt, dreht sich ihr Blick bei ihrer Vorstellung in Richtung des Spielers. „Hallo, ich bin Aika. Ich bin auch eine Blue Rogue“ geht genauso an den Spieler wie an die valuanischen Soldaten. Mehr als das braucht es nicht, um sie sofort neben Vyse als Charakter und Partymitglied zu etablieren. Charaktereinführung in zehn Worten – ist das Weltrekord?
– Der Piratenüberfall findet bei Sonnenaufgang statt, es gibt das schöne Gespräch im Sonnenuntergang, und Vyse und Aika brechen bei Sonnenaufgang zur Schatzsuche auf. Bei Sonnenaufgang beginnt ein neuer Abschnitt, bei Sonnenuntergang endet er. Ist zumindest eine nette Beobachtung – ich werde das im Lauf des Spiels mal ein bisschen weiterverfolgen, wie die Story Tag, Nacht, Sonnenauf- und Sonnenuntergang nutzt.
– Der Sinn und Zweck der Moon Stones als allgemeiner Brennstoff für Kaminfeuer, aber auch für Waffen und die großen Schiffe, wird so nebenbei eingeführt und einfach vorausgesetzt. Das kann man schon machen – gerade im Bereich Worldbuilding ist es eher wichtig, ein in sich geschlossenes Bild zu liefern, als ein „realistisches“ oder ein „ausgefeiltes“ Bild. In Skies of Arcadia fahren Schiffe durch die Lüfte und werden von Moon Stones angetrieben? Cool! Nehm ich! Wie geht’s weiter? Wichtiger ist, dieses grundlegende Bild vom Setting und der Welt nicht zu zerstören, indem die Geschichte sich selbst widerspricht oder zu viele unpassende Details eingeführt werden. Spoiler: Den Fehler wird Skies of Arcadia nicht machen. Wir wissen am Ende nicht genau, wie das alles wirklich im Detail funktioniert – das ist im Endeffekt aber auch egal, weil das alles für die Story nicht von Belang ist.
– Das Spiel führt auch schon eine punktuelle Auswahlmöglichkeit für Dialogzeilen ein. An ausgewählten Stellen wird der Spieler auswählen dürfen, was Vyse sagt. Das ist rein kosmetisch und füllt nur ein Style-Punkt-Meter auf, das für Nebenquests und sonst nicht relevant ist. Vordergründig ist das also überflüssig. Ich halte das aber trotzdem für eine gute Idee – warum? Darauf komme ich nächste Woche zu sprechen. Behaltet die beiden Stellen mit Auswahlmöglichkeiten so lange mal im Hinterkopf.
Musikstück der Woche: „Armada“ – weil es selbst Alfonso noch als bedrohlich zeichnen kann. Ein perfekter Start ins Abenteuer, um die Bösen entsprechend aufzubauen.
Nächste Woche: Akt 2, oder: Der Mordanschlag auf Don Corleone